Erich Kästner, ein Autor, dessen Werk man als eines der ersten auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat, der selbst Zeuge seiner Bücherverbrennung auf dem Opernplatz bei Berlin wurde, und nach dem Reichstagsbrand nicht ins Exil geht – das ist viel diskutiert worden. Für den Autor Tobias Lehmkuhl ist es Ausgangspunkt, in seiner Dokumentation „Der doppelte Erich“ das Leben Kästners im Dritten Reich zu beleuchten. In 2. Auflage unläng im Rowohlt Berlin Verlag erschienen, kommt die Ausgabe gerade recht zum Kästner-Jubiläum.

Und es lohnt sich, gerade in unseren bewegten Zeiten, sich mit Kästner zu beschäftigen. In 14 Kapiteln stellt Lehmkuhl „die vielen Gesichter des Erich Kästner“ vor. Treffende Kapitel-Titel wie „Unter Anschmeißern und Nutznießern“, „Das Leben, ein Maskenball“, „Schnelles Umschaltspiel“, „Der tiefste Heimliche Wert“, „Kurz und bündig“, „Wegducken oder Widerstand“, „Grade der Anpassung“, „Ziemlich zum Stiefelausziehen“ und „Verlegenheiten“ machen neugierig auf einen Lebenslauf, in dem es viele Situationen gab, mit immer neuen Entscheidungen.

Carl Zuckmayer, ein Weggefährte Kästners, urteilte über ihn: „Ein Nazi ist er bestimmt nie geworden, auch nicht zum Schein.“ Prophetisch urteilte Zuckmayer 1943 im erst 2002 veröffentlichten Geheimreport für den gerade gegründeten Auslandsgeheimdienst „Office of Strategie Services“: Kästner gehöre „zu den wenigen deutschen Nichtnazis von Ruf und Rang, die die heutigen Verhältnisse innerhalb Deutschlands genau kennen und diese Kenntnis durch alle Phasen der Hitlerherrschaft, ihres Aufstiegs und Niedergangs hindurch, erweitert hat. Wenn er überlebt, mag er einer der wichtigen Männer für die Nachkriegsperiode sein.“ Zuckmayer Prophezeiung bestätigte sich nach dem Krieg. „Er war in der Tat der berühmteste Schriftsteller, der in Deutschland geblieben war …“

Auf den Spuren Erich Kästners in Dresden 

Er suchte sich seine Nische, in der er von der neuen Macht möglichst unbeachtet blieb. „Politisch verhielt er sich dort still. Aber das Schreiben stellte er nicht ein, ganz im Gegenteil, er schrieb so fleißig wie zuvor: Romane, Drehbücher, Theaterstücke, und natürlich den täglichen Brief an die Mutter Ida in Dresden, nicht an den Vater Emil, einen Sattler, der in einer Kofferfabrik arbeitete.“ Einiges konnte nur im Ausland verlegt werden, anderes erschien mit fremdem Namen und das Drehbuch zum in Potsdam Babelsberg gedrehten Ufa-Film „Münchhausen“ wurde von offizieller Seite mit einem Pseudonym verdammt. 

Tobias Lehmkuhl: „War er deswegen ein gespaltener Mensch? Oder brauchte es für diese leichte Form von Schizophrenie gar keinen Nationalsozialismus? War sich Kästner selbst nicht immer schon ein Fremder?“ Für die Nachgeborenen ist es leicht zu urteilen. Als Kästner 1941 das „Münchhausen“-Drehbuch schrieb, „muss ihm klar gewesen sein, unter welchen Vorzeichen er das tat. Auch wenn es sich um eine historische Abenteuer-Komödie handelt, in der die eigene Zeit kaum indirekt aufscheint, bedeutete das Filmemachen im Dienst der Ufa stets: Waffen zu schaffen und die Menschen zwei Stunden lang mit Energie vollzupumpen, damit sie die nächsten Wochen leichter durchhalten und für den Sieg, auch im Bunker, die Zähne zusammenbeißen.“ Die „Deutsche Wochenschau“, das nationalsozialistische Propagandainstrument schlechthin, lief nämlich immer vor dem Hauptfilm.

Lehmkuhl urteilt: „Kästner pflegte zur Sprache eher ein sachliches, pragmatisches Verhältnis. Er war keiner, der mit der Sprache kämpfte, der mit der Welt haderte oder an ihr verzweifelte. Vielmehr einer, der sich den Umständen anpassen konnte, dem die Sprache jederzeit zur Verfügung stand.“

1961 erscheint ein Teil aus Kästners Tagebuch selbst, jener aus dem Jahr 1945. Zu einem Roman kommt es nicht, „dem Reich der Nationalsozialisten spricht er jede Qualität als literarischer Stoff ab“. Kästner denkt über die Möglichkeit nach, sich im dramatischen Bereich mit dem Dritten Reich zu befassen. Kein Epochen Großroman, „nur eben mit kleinen Bildern aus dem großen Bild“. Lehmkuhl: „Warum er das nicht versucht hat, erklärt er nicht, warum er nicht ein Schicksal, eine Situation, eine Szene genommen hat, um eben im Kleinen das Große aufscheinen zu lassen und daraus einen Roman zu machen.“

Dresden.Kästner Kästner Programm Dresden

„Der doppelte Erich“ – Das Motiv des Doppelgängers, ein hartnäckiges klassisches Kästner-Motiv, begleitet die Dokumentation. In den letzten Büchern Kästners fehlt es. „Es gibt keine falschen Identitäten in „Der kleine Mann“ und „Der kleine Mann und die kleine Miss“, keine Masken und Pseudonyme, niemand zieht sein Gesicht aus und tauscht es gegen ein anderes. Es wirkt, als habe Kästner gegen Ende seines Lebens zu sich gefunden, habe die Fremdheit sich selbst gegenüber überwunden – oder sich zumindest mit ihr arrangiert, als der Schluss seines „Traums vom Gesichtertausch“ von 1931 endlich eingelöst: 

Ganz beruhigt war ich freilich nicht.
Trug ich Mienen, die mich nicht betrafen?
Hastig sprang ich auf und machte Licht,
lief zum Spiegel, sah mir ins Gesicht,
löschte aus und ging beruhigt schlafen.“

Dass Kästner während der „Münchhausen“-Dreharbeiten 1942  auch in Babelsberg weilte, ist bekannt. Hier arbeitete er u.a. in der Villa Stückrath am Griebnitzsee ( Hauseigentümerin Caroline Flüh  stieß im Marbacher Literaturarchiv  auf einen Eintrag Kästners vom 24. August 1943: „Er erwähnt, wie zwischen halb eins und drei Uhr Wellen von Bombern am Himmel gen Berlin zogen.“ ) sowie unter dem Pseudonym Adolf Bürger in der Villa Guggenheim am heutigen Johann-Strauß-Platz. In dem Haus in Neubabelsberg, damals Rathausstraße 6 lebte damals die Schauspielerin Brigitte Horney. Hier schrieb Kästner auch zeitweilig sein „geheimes Kriegstagebuch“. Darüber wird im Buch ausführlich erzählt.

Villa Babelsberg Griebnitzsee Villen

Landhaus Gugenheim mit den Initialen HG, Foto: Weirauch  

Positiv fand ich: Großer Anmerkungsapparat mit Quellenangaben und umfangreicher Literaturliste.

Wir lesen Kästner bis heute mit großem Interesse, ob „Emil und die Detektive“, das „Doppelte Lottchen“, „Fabian, die Geschichte eines Moralisten“ oder den in der „Weltbühne“ veröffentlichten „Brief an ein Bracht-Exemplar“ und vieles mehr. Heute greifen wir auch gern auf seinen Gedichtband „Wieso warum?“ zurück, etwa, wenn es um den „Hauptmann von Köpenick“ geht, dessen 175. Geburtsjubiläum sich gerade jährt.

Überrascht hat uns, dass Kästner häufig für mehrere Tage nach Ketzin an der Havel reiste, „um bei einem befreundeten Textilwarenhändler zu wohnen und so möglichen Bombardierungen zu entgehen“. Darüber hatte erstmals Literaturport Brandenburg berichtet.

Tobias Lehmkuhl, Der doppelte Erich – Kästner im Dritten Reich, 2. Auflage, Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin 2023. ISBN 978-3-371-0150-9. 

Hier erfahrt ihr mehr über unsere Spurensuche in Dresden, die Heimatstadt von Erich Kästner, Schauplatz von „Als ich ein kleiner Junge war“

erich kästner als ich ein kleiner junge war

Erich Kästner Als ich ein kleiner Junge war Cover Atrium Verlag

Hier geht es schon mal nach Neubabelsberg mit Jörg Limberg.