von Wolfgang Will, Chefredakteur a.D.
Augsburg – Buchenwald – USA – Berlin
Ernst Cramer: Ein großer deutscher Publizist
Das erste Zusammentreffen der beiden im Dezember 1957 war eher ein Zusammenstoß, ein Eklat. Der eine, Zeitungszar Axel Springer, war gerade von seiner ersten US-Reise zurückgekommen. Er war von den USA und den Amerikanern „entsetzt“, ließ er wissen, ging in Details, spielte sich als militanter Antiamerikaner auf. Der andere, Ernst Cramer, widersprach heftigst: „Wir wurden beide etwas laut“, erinnerte sich Cramer später, „und ich meinte, es würde nie ein Wiedersehen geben“. Welch ein Irrtum! Am nächsten Morgen rief ein Springer-Mitarbeiter bei Cramer an und sagte, „der Verleger möchte Sie heute noch einmal sehen“. So geschah es, und Axel Springer fragte diesen Ernst Cramer: „Haben Sie Lust, in die Chefredaktion der WELT einzutreten?“. Der Überraschte erinnerte an den Streit vom Vortag . . . doch Springer unterbrach abrupt: „Ich habe genug Yes-Men in meinem Verlag. Aber ich suche nach Leuten mit eigener Meinung, die auch zu ihr stehen“. Cramer daraufhin: „Auf der Basis nehme ich an“.
Diese Episode ist einem hervorragenden Buch entnommen, erst kürzlich in Berlin vorgestellt: „Ich gehöre hier hin. Remigration und Reeducation: Der Publizist Ernst Cramer“. Allitera Verlag München. Autoren sind zwei bekannte Historiker-Journalisten: Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff. Ihnen ist eine außergewöhnliche Biographie jenes Mannes gelungen, der mehr als 50 Jahre für das Haus Axel Springer tätig war. Er hat diesen Verlag und seine Redaktionen geprägt wie kein anderer. Dabei ist dieses Buch weit, weit mehr als ein Cramer-Denkmal: Es ist ein medienpolitisches Geschichtsbuch der deutschen Nachkriegszeit. Jeder Journalist sollte es gelesen haben, und für Journalistenschulen und -akademien ist es als Lehrbuch hervorragend geeignet.
„Tatsachen“, so formulierte es Ernst Cramer einmal einem Freund gegenüber, haben ihn besonders „geprägt“: Im beschaulichen, geliebten Geburtsort Augsburg die Familie und später die zweifache Begegnung mit dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, einmal als jüdischer Häftling, das andere Mal als Befreier in der Uniform eines US-Sergeant (Stabsunteroffizier/Feldwebel).
Die Familie, in die Ernst Cramer am 28. Januar 1913 geboren wurde, galt damals als „gutbürgerlich“. Vater Martin stammte aus der Pfalz und war zunächst Weinhändler in Bingen am Rhein, ausgebildet als Kaufmann. Er zog nach Augsburg und eröffnete dort einen Zigarrenladen. Hier heiratete er die Augsburgerin Clara geborene Berberich. Sie konnte ihre Ahnen bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen – schwäbisch über all die Jahrhunderte hinweg. Sie war tänzerisch begabt und liebte die Geselligkeit. Den Künsten galt die Vorliebe beider Elternteile. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gründete Vater Cramer die „Augsburger Literarische Gesellschaft“ und schrieb selbst Gedichte. Es gelang ihm, Dichter und Schriftsteller – auch ausländische – nach Augsburg zu holen. Er spielte Cello und besuchte musikalische Veranstaltungen ebenso wie Aufführungen im Stadttheater. Er besuchte auch Konzerte in München, das er „Stehplatz dritte Klasse“ per Bahn erreichte. Die Cramers hatten drei Kinder, Ernst, Helene und Erwin – und sie waren jüdisch. Nur an hohen Feiertagen wurde die Synagoge aufgesucht, wie etwa auch die christlichen Nachbarn und Freunde es mit ihren Kirchengemeinden hielten. Man war eben Augsburger und eben deutsch – der Bruder von Cramers Mutter diente im Krieg als kaiserlicher Offizier und trat später der SPD bei. Schicksalsjahr 1938. Die Nazis forcierten ihre Judenverfolgungen. Vater Cramer kam ins KZ Dachau, Sohn Ernst wurde im KZ Buchenwald inhaftiert. Häftlingsnummer 27833. Der Vater und Cramers jüngster Bruder überlebten den Holocaust nicht, Ernst Cramer hatte Glück – er wurde aus Buchenwald entlassen und durfte auswandern.
Es sind lediglich Episoden dieses ungewöhnlichen Lebens, die hier dargestellt werden – die über 200 Seiten des Buches vermitteln alles viel intensiver. Auch durch zahllose Fotos, viele davon aus Familienbesitz, hier erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Hatte Ernst Cramer in verschiedenen Kaufhäusern Augsburgs gearbeitet, gab es für ihn nach der Einwanderung in die USA 1939 eine weitere Zäsur – in Virginia wurde er Landarbeiter, auf den Tabakfeldern. Er entschloss sich zum Studium der Landwirtschaft. Da erklärte Hitler 1941 auch den USA den Krieg – Ernst Cramer meldete sich als Freiwilliger bei der US-Armee. Es war „die schwierigste, bitterste Entscheidung meines Lebens“, blickte er Jahrzehnte später einmal zurück, „gegen mein Geburtsland zu kämpfen“. Er wollte dabei helfen, ein neues, ein freies, ein demokratische Deutschland zu schaffen. Seiner Deutschkenntnisse wegen wurde Ernst Cramer Mitglied einer US-Einheit für psychologische Kriegsführung, die unter dem Kommando eines anderen jüdischen Emigranten – Hans Habe – u.a. die Aufgabe hatte, im besetzten (Nachkriegs)Deutschland freie, unabhängige Zeitungen und Radiosender zu schaffen.
Mitte April hatte die US-Armee weite Teile Thüringens besetzt. Cramers Einheit war in Eisenach stationiert. Sein Chef beschloss, das am 11. April befreite KZ Buchenwald zu besuchen, etwa zwei Autostunden entfernt, und er fragte Cramer, ob er ihn begleiten wolle – wissend, dass Ernst Cramer dort nur wenige Jahre zuvor – 1938 – von den Nazis eingesperrt worden war. Cramer bejahte. Ihnen lag ein Bericht jener Einheit vor, die Buchenwald als erste erreicht hatte: „21 400 politische Häftlinge. . . 3 000 krank, in kritischem Zustand . . .weder Arzneien noch medizinisches Material noch Desinfektionsmittel vorhanden . . . die Lage ist verzweifelt …“. Cramer über das Buchenwald, das er jetzt – am 12. April 1945 – als US-Soldat antraf: „Wir waren kurz vor dem Lager, auf dem sogenannten Karachoweg. Die ersten Häftlinge liefen – viele torkelten – uns entgegen. Am großen Tor, an dem amerikanische Soldaten mit Mühe die Massen zurückdrängten, um etwas Ordnung herzustellen, wurden wir von einem Leutnant begrüßt. . . Was wir auf dem kurzen Weg vom Tor zu den Baracken sahen, ließ alles, was ich im Herbst 1938 erlebt hatte, zur Nichtigkeit zusammenschrumpfen. Es kamen Gestalten auf uns zu, die vom Tode gezeichnet waren. Einige von ihnen brachen beim Versuch, mit uns zu sprechen, zusammen. . . Ausgemergelte Leichname waren wie Holzscheite aufeinandergestapelt… Andere Tote lagen scheinbar unbeachtet in irgendeiner Ecke . . . In der Luft hing eine Mischung aus dem Geruch von Leichen und antiseptischem Kalk. Es war grauenerregend, und der Gedanke, dass es in Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern noch weit schlimmer gewesen sein musste, war fast nicht zu ertragen“.
Dieses Erlebnis hatte Ernst Cramer am 11. April 2005 in WELT veröffentlicht, wie so vieles, was sich in dem Buch wieder findet. Sofort nach dem Besuch des befreiten KZ Buchenwald erklärte Cramer seinen Vorgesetzten, in Deutschland bleiben zu wollen – um am Wiederaufbau teilzuhaben, um ein demokratische Deutschland zu schaffen.
Das tat er in erster Linie als Publizist. Schon 1945 bei der „Neue Zeitung“, laut Untertitel „Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung“. 1948 heiratete Ernst Cramer Marianne Untermayer, aus der Ehe gingen Zwillinge hervor, Tom und Claire. Der Sohn lebt in den USA, die Tochter ist in Norwegen verheiratet. Beide waren bei der Vorstellung dieses Buches in Berlin anwesend.
Zu seinem Amtsantritt bei Springer 1958 bekam Ernst Cramer eine nagelneue Schreibmaschine geschenkt, eine in Nürnberg hergestellte „Triumph“. Auf ihr hat er bis zu seinem Tod jeden seiner Artikel selbst getippt. Auch dann noch, nachdem er 1966 zu seinen vielen anderen Funktionen im Verlag noch „Beauftragter für elektronische Medien“ wurde. Seine „Triumph“, fabulierte er dazu einmal, „triumphierte über die Computerei“. Diese Schreibmaschine gehört heute zu den „Trumpf“-Requisiten, die im Unternehmensarchiv Springers als Kostbarkeiten aufbewahrt werden. Wenn diese Schreibmaschine erzählen könnte . . .
Berlin war der private und berufliche Mittelpunkt dieses Mannes. Sein Werdegang bei Axel Springer ist beispiellos. Er war u.a.Leiter des Verlegerbüros. Mitglied des Vorstandes der Axel Springer Stiftung. Einer des Testamentsvollstrecker Axel Springers. Herausgeber der „WELT AM SONNTAG“.
In erster Linie aber war er Journalist. Er starb am 19. Januar 2010. Wunschgemäß fand er seine letzte Ruhestätte in seiner Heimatstadt Augsburg. Das neue Buch ist eine grandiose Würdigung dieses großen Deutschen.
Preis des Buches: 19,90 Euro
Hier besucht Wolfgang Will den Neubau des Axel Springer Verlages in Berlin
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