Marcin Wiatr: Literarischer Reiseführer Oberschlesien
Opole ist eine alte Stadt, in der alles jung ist, aber so alt ausschaut, wie es früher nie war. Sie liegt im Südwesten Polens auf halbem Wege zwischen der Industriestadt Kattowitz und Wrocław, dem einstigen Breslau, inmitten einer Region, die bis 1945 Oberschlesien geheißen hat. Schon im Mittelalter waren deutsche Kaufleute hierher gezogen, als über Stadt und Land noch die polnische Fürstenfamilie der Piasten herrschte. … Nach manchen Kriegen wurde Schlesien zur preußischen Provinz, und bei Deutschland ist die Region Oppeln auch geblieben, nachdem das preußisch-deutsche Kaiserreich 1918 endlich doch am Ende war und Teile Schlesiens an das neu erstandene Polen fielen. Eine vom Völkerbund überwachte Volksabstimmung ergab, dass rund zwanzigmal mehr Bewohner Oberschlesiens dafür waren, dass ihr Land bei Deutschland blieb, als dass es Polen zugeschlagen werde.
Das Bahnhofsgebäude
Der ziegelrote Bau ist ein auffälliges Gebäude, das zu einer Besichtigung einlädt. 1899 im eklektischen Stil mit einer ansehnlichen Bahnhofshalle errichtet, war der Oppelner Hauptbahnhof das dritte Gebäude der späteren Reichsbahn, das den Reisenden zur Verfügung stand. August Scholtis, der Anfang der 1960er Jahre durch Polen und auch Oberschlesien gereist war, erinnerte sich an seine Ankunft mit dem Zug im polnischen Oppole: „ Auf dem Bahnhof Oppeln ist sich alles so gleich geblieben, daß es mir vorkommt, als ob auch die früheren deutschen Eisenbahnbeamten hier noch immer eifrig ihren Dienst verrichten. … Auch vor dem Bahnhof bietet sich im großen ganzen das alte Bild. Einige Häuserblocks hat man offenbar in ihrem früheren Stil wieder aufgebaut. (Scholtis, August, Reise nach Polen, 2. Auflage. Verlag C. H. Beck München 1962, S. 192 f.)
Oppelner Venedig
Unser Spaziergang führt uns zum linken Ufer des Mühlgrabens, „um den Anblick des nicht weniger verführerisch anmutenden Oppelner Venedigs nicht zur verpassen. Dies ist einer der ältesten Winkel der rechtsufrigen Altstadt aus dem 13. Jahrhundert, der direkt am Mühlgraben liegt. Glücklicherweise hat Karl-Markus Gauß vor seiner Abreise aus Oppeln diesen Stadtteil noch gefunden: Abends, als ich noch einmal durch die Stadt ging, im sicheren Wissen, sie gerade zum letzten Mal zu sehen, geriet ich unversehens in einen Stadtteil, den die Oppelner Venedig nannten. Klein-Venedigs kannte ich ein paar in Europa, doch keines trug seinen Namen mit glich viel Recht wie dieses in Schlesien.

Blick vom Piastenturm auf „Oppelner Venedig“ und die Kathedrale
Das schaukelnde Licht im Mühlkanal, in dem sich die Fassaden der beleuchteten Häuser spiegelten, war es nicht allein, das an Venedig erinnerte, mehr noch war es das Kulissenhafte, das Tehatralische der Stadt, die wirkte, als wäre sie in einem beständigen Spiel der Täuschungen verfangen, sodass das Alte neu, das Neue alt, das Deutsche polnisch, das Polnische deutsch, die Entsagung lebensfroh, das Lebendfrohe mürrisch …, das Rätsel offenkundig erschien. (Gauß, Karl-Markus. Im Wald der Metropolen. Paul Zsolnay Verlag Wien 2010. S. 178)
Oppelner Piastenturm
Dieser ist mit seinen 51 Metern hinter dem Neuen Regierungsgebäude (heute Woiwodschaftsverwaltung), das 1936 anstelle des einstigen Piastenschlosses errichtet wurde und dem man den von Walter Gropius geprägten Bauhaus-Stil deutlich ansieht, nicht zu übersehen. Der Turm symbolisiert das Herrschergeschlecht der Piasten, welches unzertrennlich mit der frühen Geschichte Oppelns und Oberschlesien zusammenhängt und nach 1945, nachdem die gesamte Region polnische geworden war, besonders intensiv und nicht ohne Geschichtsklitterungen für die nationale Vereinnahmung der Region bemüht wurde.

Den Piastenturm kann man besteigen und hat dann einen tollen ausblick über Opole und das Oppelner Land..
Die Überreste einiger Herrscher der Oppelner Piastendynastie ruhen in einer Gruft unter dem Hauptaltar der Franziskaner Dreifaltigkeitskirche, die nur einige Schritte von hier entfernt, rechts des Mühlgrabens in der Schlossstraße zu sehen ist.
Wallfahrtsbasilika Sankt Anna
Zum Innenhof der Basilika, dem sogenannten Paradieshof, führen steinerne Stufen, die wir gemeinsam mit dem Schriftsteller Horst Bienek emporsteigen: … ich stehe … vor der Treppe zur Wallfahrtskirche, jener berühmten Treppe, blankgescheuert von Zehntausenden von Füßen, die hier alljährlich hinaufsteigen. Und die Frauen sind diese Stufen meist kniend hinaufgerutscht, laut betend und die Faust auf die Brust schlagend. Dreiunddreißig Stufen sollen es seine, jede Stufe für ein Lebensjahr Christi. … Oben angelangt, kommt man zuerst in einen weiten Vorhof, von dem aus es rechts zum Kloster geht und links zur Wallfahrtskirche mit dem Herzen der heiligen Mutter Anna. (Bienek

Doch auch das Dominium der Franziskaner auf dem Sankt Annaberg erfasste die Säkularisierung von 1810/1811. Der Klosterbesitz ging an den preußschen Staat über, die Wallfahrtsbewegung ließ deutlich nach. Erst 1852 kehrten die vertriebenen Franziskaner auf Geheiß des neuen Besitzers, des Breslaueer Fürstbischofs Heinrich Förster, nach Sankt Annaberg zurück. Diesmal waren es deutsche Mönche aus Westfalen, die nun deutsch- und polnischsprachige Pilger betreuten. Horst Bienek erinnert sich an die besondere Atmosphäre des Ortes: Viermal bin ich in meiner Kindheit zum Annaberg gewallfahrtet. Das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen an kirchliche Feste. … Wir mußten um sechs Uhr in der Frühe raus. Den ganzen Weg entlang wurden Wallfahrtslieder gesungen, immer wieder dieselben, und wer am Beginn nur die erste Zeile kannte, konnte am Schluß sämtliche Strophen auswendig. Es kam ohnehin nur darauf an, sich auf diese Weise in eine Art religiöse Ekstase hineinzusteigern, um so den langen Weg, die Wasserblasen an den Füßen und den Muskelkater zu vergessen. “ So erinnert sich Horst Bienek in „Wiedersehen mit Schlesien“, 1993 Carl Hanser Verlag München.
Ein sehr solide recherchierter Reiseführer, der auch als Lese- und Geschichtsbuchh viele Ideen für den nächsten Besuch in Oberschlesien und dem Oppelner Land gibt.
Marcin Wiatr, Literarischer Reiseführer Oberschlesien, 2. Auflage, Potsdamer Bibliothek östliches Europa Kulturreisen. Deutsches Kulturforum östliches Europa e.V. Potsdam 2025.
Der Autor

Cover Literarischer Reiseführer Oberschlesien Deutsches Kultuirforum östliches Europa
Marcin Wiatr, geboren in Gleiwitz, Germanist und Historiker, lädt zu einer (kunst-)historischen und literarischen Erkundung Oberschlesiens im Hinblick auf die Themen Baukunst, Industrie, Grenze, Landschaft und Mystik.
Wiatr Marcin: Literarischer Reiseführer Oberschlesien. Fünf Touren durch das barocke, (post)industrielle, grüne, mystische Grenzland.
zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, Potsdam 2025
424 Seiten, mit zahlreichen farbigen und Schwarz.-Weiß.-Abbildungen, Kurzbiografien, ausführlichem Registern und zweisprachigen Karten.
22,– Euro | ISBN 978-3-936168-91-4
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