Wer mit dem Fahrrad auf dem Strochenradweg rund um den Beetzsee bei Brandenburg/Havel oder von Brandenburg nach Klein-Kreutz bis Saaringen fährt, der fährt weitestgehend auf einer alten Eisenbahntrasse. 2021 widmet sich Kulturland Brandenburg der Industriegeschichte im Land. Als wichtige Ergänzung zur Eisenbahngeschichte des Westhavellandes liegt nun der profunde Band des Eisenbahnhistorikers Jörg Schulze über die Westhavelländischen Kreisbahnen vor. In einer Ausstellung des Dorfmuseums Tremmen hatte Jörg Schulze bereits vor einigen Jahren viele Details und Zeitzeugenberichte zu den Westhavelländischen Kreisbahnen vorgestellt.

Einst Eisenbahnstrecke – heute Rad- und Wanderweg zwischen Ketzür und Lünow am Beetzsee
Das Buch gibt mit vielen historischen Fotos und detaillierten Beschreibungen, Bauzeichnungen und Protokollen Einblick in die Geschichte der einst (bis etwa 1966) für das Transportwesen im Havelland wichtigen strecke. Nicht nur Getreide, Zuckerrüben und Ziegelsteine wurden aufwändig transportiert. Auch Müll aus der immer mehr wachsenden Großstadt Berlin kam mit den Waggons der Westhavelländischen Kreisbahn nach Päwesin und Ketzin. In Päwesin wurden zig Hektar der einstigen Tongruben „der Lötz“ mit Asche aus Berlin verfüllt. Eine mühselige Arbeit, die auch zu Unfällen führte. Der Detailtreue des Buches gelingt ein Eindruck, wie es um die Zeit um 1920 dort aussah.
Zur Geschichte der Bahn
Als zweite in der preußischen Provinz Brandenburg nach dem Kleinbahngesetz vom 28. Juli 1892 errichtete Kleinbahn wurde die normalspurige Strecke Nauen – Ketzin durch die AG Osthavelländische Kreisbahnen für den Lokalgüterverkehr im Herbst 1893 eröffnet. Der öffentliche Personen- und Güterverkehr begann am 13. Dezember 1893. An dieser Strecke lag auch nahe der Berlin-Lehrter Bahn der Bahnhof Röthehof, wo sich ab 1901 die Westhavelländischen Kreisbahnen anschlossen. Der Zweck dieser ausgesprochen ländlichen Kleinbahn bestand vorrangig darin, nach Westen hin eine bequemere Verbindung mit der Stadt Brandenburg, vor allem zur Verarbeitung von Getreide in den dortigen Getreidemühlen zu schaffen. Die eigentliche Orientierung dieser Bahn lag in Richtung Osten, um den Transport der in großer Menge gewonnenen Zuckerrüben in die Zuckerfabriken in Neuen und Ketzin zu verbessern sowie den Weg sonstiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse und besonders auch von Ziegelsteinen zur Reichshauptstadt über die Hamburger und Lehrter Bahn zu verkürzen. Vom Bahnhof Röthehof zweigte auch ein Verbindungsgleis nach Neugarten zur Berlin-Lehrter Bahn ab. Die ehemalige Aktiengesellschaft Osthavelländische Kreisbahnenbetrieb neben der Stammstrecke Nauen – Ketzin auch die Strecken Nauen – Bötzow – Velten und Bötzow – Spandau. Außerdem hatte sie von Anfang an die Betriebsführung der Westhavelländischen Kreisbahnen übernommen.

Cover VBN Verlag B. Neddermeyer
Kurioses, Unfälle und Geschichten
Die Reisenden fanden für die Abkürzung W.H.K.B. immer wieder kuriose Erklärungen. Einen Schankbetrieb gab es nirgends bei den Westhavelländischen Kreisbahnen. Da die Märker aber bekanntlich immer unter großem Durst leiden, wurde aus W.H.K.B. „Wir haben kein Bier“ oder „Wir haben kolossalen Brand“. Andere deuteten die Buchstaben „Wir haben keine Bange“ und ergänzen in Gedanken „dass der Zug stecken bleibt“. Auch machte man aus der WHKB die „Wilhelm Hornemannsche Kartoffelbahn“, da der Bauer Hornemann aus dem Havelland sehr viele Kartoffeln mit der Bahn transportieren ließ.

Roskow war einst das Zentrum der Westhavelländischen Kreisbahnen
Damals wie heute …
Unter der Rubrik „Leser sagen ihre Meinung“ sagt Johannes Wilde aus Niebede in der Märkischen Volksstimme vom 10. April 1952 seine Meinung: „Hängt mehr Wagen an! Es ist von der Reichsbahndirektion unverantwortlich, dass die Schüler von Niebede jeden Morgen im ungeheizten Packwagen zur Schule nach Tremmen fahren müssen. Gerade jetzt bei der herrschenden Grippe fallen täglich Kinder vom Unterricht aus. Der Zug verkehrt nur mit zwei Personenwagen, welche schon in Päwesin überfüllt sind. Nun frage ich die Rbd: Warum werden nicht in diesem Zug mehr Wagen angehängt? Auf dem Bahnhof Roskow stehen zwei Personenwagen unbenutzt. Dieselbe Überfüllung ist es beim Mittagszug, welcher Röthehof um 14.05 Uhr verlässt. Warum fahren die Züge von Ketzin nach Nauen immer mit sechs Wagen, die meistens leer sind und die Brandenburger Züge nur mit zwei Wagen, die immer überbesetzt sind? Wann wir hier mal Abhilfe geschaffen?
In der Brandenburger Zeitung vom 1. Dezember 1921 wurde wieder einmal die Pünktlichkeit der Bahn kritisiert: „Wie die Zeiten der seligen Postkutsche muten beinahe die Zustände der Westhavelländischen Kreisbahnen an. Schon morgens fährt der Zug mit 1/2 oder 3/4 Stunden Verspätung ab. Das Publikum muss auf den Stationen warten und sich die Glieder erfrieren lassen. Der Zug, der 10.44 in Krakauer Tor eintreffen soll, ist fast regelmäßig erst 11.15 Uhr oder 11.20 Uhr dort. Ist denn das Publikum für die Bahn oder die Bahn für das Publikum da? Der Kreis zahlt doch die Zuschüsse. Es tut Not, dass er sich für die Leitung interessiert.“
Fundsachen
Noch in den 90er Jahren berichteten Eisenbahner in Roskow, dass sie immer noch einen Weihnachtsbaumständer und einen Spiegel nutzen, die von der Päwesiner Müllkippe stammen. Da nach dem Zeiten Weltkrieg viel Schutt aus dem zerstörten Berlin dorthin gelangte, fand man oft wertvolle Dinge. Da die Wagen noch dazu handentladen wurden, kam von Schmuckstücken über Schlittschuhen bis zu Buntmetall vieles zum Vorschein. Auch wurde dort säckeweise Brot zur Vieh-Fütterung gesammelt.
Der Band weckt bei Einwohnern der ehemaligen Anliegergemeinden sicher die eine oder andere Erinnerung. Eisenbahnhistoriker werden ihn mit Freude durchblättern, hat der Autor doch intensiv in Archiven der ehemaligen Reichsbahndirektion wie im heutigen Brandenburgischen Landeshauptarchiv recherchiert.
Übrigens gibt es seit Jahren Bestrebungen die Eisenbahnstrecke Ketzin nach Nauen (über Röthehof) wieder zu aktivieren. Die Gleise liegen noch. Der Geschichte der Eisenbahn im Havelland könnte also fortgeschrieben werden. Die Chanchen dafür stehen gut…
Über die Geschichte der Havelländischen Eisenbahn erfuhren wir zuerst näheres in einer spannenden Ausstellung, die wir im Dorfmuseum Tremmen sahen. Das Dorfmuseum solltet ihr Euch
inbedingt anchauen, wenn ihr in Ketzin und Umgebung unterwegs seid.
Jörg Schulze, Westhavelländische Kreisbahnen. Berlin 2021. www.eisenbahn-verlag.de
Hier erfahrt ihr mehr zur einst dominierenden Ziegelindustrie im Westhavelland, wichtigstes Transportmittel waren Eisenbahn und Binnenschifffahrt)
Hinterlasse einen Kommentar