Wie ist es möglich, dass sich nicht nur die Einwohner, sondern auch fremde Menschen in Zahl über Generationen hinweg in einer Stadt wohlfühlen, dass sie diese Stadt gleichlautend über Jahrzehnte oder fast Jahrhunderte als „schön“ empfinden? Der Potsdamer Maler Olaf Thiede erklärt uns die Bedeutung dieses Phänomens so: „ Insbesondere hier in Potsdam spielen die sog. „Sichtachsen“ eine wesentliche Rolle. Doch viele Achsen sind nur kartografisch nachvollziehbar, da es sich hierbei um Symbol – oder Bedeutungsachsen handelt. Alles zusammen wirkt in einem optischen, emotionalen und geistigen Netzwerk. Kunst und Ästhetik, Funktionalität und Wissenschaft bilden eine beziehungsreiche Einheit. Die Ausrichtung der Potsdamer Straßen nach den Bergen des Umlandes (Pfingstberg, Böttcherberg, Ruinenberg, Pannenberg/Reiherberg, Schäferberg, Babelsberg, Brauhausberg, Telegraphenberg) macht ein konsequentes Wechselspiel zwischen stadtplanerischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis möglich. Ein Netz von Blickbezügen zu und aus Gartenanlagen, Schlössern, Kirchen, Türmen und in unendliche Raumfolgen bietet in der Potsdamer Kulturlandschaft immer wieder spektakuläre Erlebnisse. Maler und Hobbyhistoriker Olaf Thiede nimmt uns in seinem neuesten Buch mit auf Sichtachsen-Erkundungstour in Potsdam und Umgebung. Das Buch lOlaf Thiede, Potsdam im Blick. Innenstadt und Vorstädte im 19. und frühen 20. Jahrhundert liest sich spannend, bringt Überraschungen zutage, die selbst Potsdamkenner erstaunen. Denn nur, was man weiß, das sieht man auch und kann Zusammenhänge, wie was wo genau dort gebaut wurde, verstehen.
Was Gartenkünstler wie Peter Joseph Lenné, Fürst Hermann Pückler-Muskau sowie Architekten wie Karl Friedrich Schinkel, Ludwig Persius, Ludwig Ferdinand Hesse oder Friedrich August Stüler schufen, lässt heutige „Stararchitekten“ vor Neid erblassen. Gerade die wilde Baupolitik in der Potsdamer Kulturlandschaft war um 1994 herum ein stetiger Zankapfel des UNERSCO-Welterbekomitees und führte fast zur Aberkennung des Welterbetitels. Wie oft standen die Denkmalpfleger an der Gienicker Brücke oder auf dem Flatowturm im Babelsberger Park und beäugten die geplanten Baumassen am Glienicker Horn und den dann immer noch zu monströs wirkenden Bau des Potsdam-Centers am Stadtbahnhof. Die sogenannte „Lange Sicht“, eine wichtige Sichtachse, spielte immer wieder eine große Rolle dabei. In Potsdam hat jeder der sieben die Stadt umgebenden Berge mit seinen Architekturen eine Bedeutung. Diese Sichtachsen sind Kulturgut und dürfen nicht zerstört werden. Die Bauten gegenüber des Hafens mit dem Schwimmtempel blu und der neuen gesichtslosen Architektur der Speicherstadt – was würde wohl Persius dazu heute sagen ?
Der Mahner Olaf Thiede bringt historische mit aktuellen Entwicklungen zu einander, kann aus einem umfangreichen Wissensschatz schöpfen. Er scheint, so kommt es mir beim Lesen und Anschauen der Hunderten Zeichnungen und Abbildungen vor, täglich in seiner Heimatstadt unterwegs zu sein. Nur gut, das es solche engagierte Menschen gibt.
Olaf Thiede, Potsdam im Blick. Innenstadt und Vorstädte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Potsdam 2024.
Seit dem Großen Kurfürsten sind die Potsdamer Sichtachsen ein wesentlicher Bestandteil der Potsdamer Baukultur. Gartenkünstler Peter Joseph Lenne` sagte darüber, dass es sich da ja nicht um röhrenförmige Lenkungen des Blicks, sondern um ein Hinführen des Auges zu weiten Bildern handele. Sanssouci Gartendirektor Dr. Harri Günther hatte mit vielen Tricks zu DDR-Zeiten eine wichtige Sichtachse vom Neuen Garten über den Jungfernsee bis zur Pfaueninsel freischlagen können. Sein Nachfolger Prof. Michael Seiler nutzte nach 1992 die Chanche, durch den Kalten Krieg verschüttete Sichtbeziehungen, so vom Pfingstbergbelvedere hinüber zum Babelsberger Park wieder erlebbar zu machen. So können wir heute bei einem Spaziergang entlang und von den Bergen Potsdams (mit ihren Belvederes und Türmen) das von Thiede öfters als „Genius loci“ bezeichnete Potsdamer Paradies aus höherer Warte erleben. Was für ein Genuss.
Nachdem das Mäzenatentum von Versandhausgründer Werner Otto den Aufstieg zum Westturm des Belvederes auf dem Pfingstberg ermöglichte, konnten wir sodann vom Normannischen Turm auf dem Ruinenberg fantastische Aussichten erleben und Gleiches von der Historischen Mühle, dem Belvedere des Orangerieschlosses und, wenn geöffnet, auch vom Belvedere auf dem Klausberg bestaunen. Die Blicke werden heute zurückgespiegelt vom wiedererstandenen Turm der Garnisonkirche, den wir bislang noch nicht besucht haben. Dafür gab es in den letzten Jahren immer wieder Ausblicke vom Hotel Mercure sowie vom Turm der Nikolaikirche und neuerdings vom Kunsthaus Minsk.
Blick in das Buch: „1657 wurde Potsdam nach Berlin zweite Residenzstadt. Das Areal um Stadtschloss und Alter Markt bildete das funktionale und ideelle Zentrum. Paläste und gehobenes Bürgertum waren näher dem Schloss gelegen, Bürger-, Handwerker- und Soldatenquartiere wurden im weiteren Verlauf bis hin zur Stadtmauer entsprechend entfernt angelegt. Nach dem Anlegen der drei großen Hauptachsen auf die Fernziele Tangermünde, Küstrin und Spandau und der anderen Straßenachsen auf näherliegende landschaftliche Fixpunkte der Berge konnte abschließend die Innenstadt mit kleineren Verbindungsstraßen nach regelmäßig geometrischem Raster gestaltet werden. Quartiere, Karrees und Siedlungen formierten sich angepasst. Kirchtürme und Schlosskuppeln bildeten die barocken Höhendominanten. Mit dem Grundriss der Stadt entstand ein natürliches und pragmatisches Orientierungssystem: regelmäßig/unregelmäßig.“
Thiede stellt fest, dass mit der Anlegung der Vorstädte im 19. Jahrhundert mit weiteren Türmen und neuen Straßenachsen entstand ein enges Optisches und symbolisches Orientierungs- und Beziehungsgeflecht mit einer hohen funktionellen und ästhetischen Qualität. Mit der harmonischen Einbettung in die weitere Umgebungslandschaft wurde in der Stadt Potsdam ein angestrebtes Ideal europäischer Kulturgeschichte nahezu erreicht.
Der Einsteinturm
Der Einsteinturm (erbaut 1919-1924 nach dem Entwurf von Erich Mendelsohn) befindet sich im südlichen Bereich der Anlagen auf dem Telegraphenberg. Anlass war die Überprüfung der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins durch Messungen im Sonnenspektrum. Äußerst interessant und aufschlussreich ist für den Autor die Tatsache, dass vom gewählten Standort des Einsteinturms etwas vermittelnd eine Linie über die historische Kuppel des Großen Refraktors und des ehemaligen königlichen Oberservatoriums genau zur Eremitage/Einsiedelei im Neuen Garten am Jungfernsee führt.
Auch wenn es vielleicht schwerfällt zu akzeptieren, aber diese Eremitage (erbaut 1796 von Carl Gotthard Langhans, 1964 abgerissen, 2007 die äußere Hülle durch spenden des Rotaryklubs Potsdam wiedererrichtet) war einer der Geburtsorte der preußischen Wissenschaften. Unter König Friedrich Wilhelm II. versuchten hier Freimaurer/Rosenkreuzer im Zuge der Aufklärung das alte traditionelle mystisch-symbolische Wissen der Menschheitsgeschichte (ägyptisch-griechisch-römisch / Renaissance) mit den neuen überprüfbaren Wissenschaften in Einklang zu bringen. Angesichts der Potsdamer Kultur- und Wissenschaftsgeschichte regt Thiede eine solide Rekonstruktion des Innenraums (nach den vorhandenen alten Fotos) dieses außergewöhnlichen und nach außen so unscheinbaren Gebäudes dringend an.
Die Kartographie erreichte in den Jahren um 1900 technisch und künstlerisch ihren Höhepunkt und ist als ein modernes attraktives und eigenständiges Medium zu verstehen. Die stark aussagefähigen alten Karten bilden in ihrem zeitlichen Ablauf ein unverzichtbares bildhaftes und auch rechnerisch nachprüfbares Material zur Geschichte der Stadt und der Region. Sie unterstützen auch ein starkes heimatliches Identitätsbewusstsein.
Die Sehnsucht nach Schönheit war in den Werken der alten Baumeister immer die treibende und verbindende Kraft. Potsdam wurde über Generationen als Gemeinschaftswerk nach den allgemeinen Regeln der schönen Künste gestaltet. Alles baut aufeinander auf und steht funktionell und ästhetisch in Beziehung zueinander. Abschließend stellt Thiede fest: „In den heute existierenden und gewürdigten Bauten aus vielen Jahrzehnten sowie den herausragenden kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen ihrer Menschen – in einem älteren, höheren und besseren Sinnen zeigt sich so ein anderer, menschlicher „Geist von Potsdam“.
Potsdam ist schön
Potsdam ist schön, wohl die häufigste Charakterisierung über eine Stadt, die jährlich Tausende Gäste anzieht. Ist Schönheit Zufall ?
Olaf Thiede, freischaffend als Maler und Grafiker tätig, Buchautor in Regional- und Stadtgeschichte, geht dieser Frage immer wieder nach, in dem er Potsdam als komplexes System von Sichtachsen und symbolischen Beziehungen untersucht.
„Es soll im Buch versucht werden, die vielen geistigen, kulturellen und technischen Ebenen in einem bildhaft ganzheitlich gedachten Netzwerk zusammenzuführen, als Symbiose von Kunst, Natur und Wissenschaft.“ Für die komplexe Struktur einer Stadt kann die Kunst- und Zeitgeschichte bereits wesentliche Antworten geben. Ergänzend in der Spurensuche wirkt hier die neue Rolle der geodätischen Wissenschaft. Die militärische Tradition Potsdams bot logistische und intellektuelle Voraussetzung zur Entwicklung der exakten Vermessungswissenschaften. Zivile Forschungs- und Beobachtungsanlagen auf dem Telegraphenberg machen Potsdam zum heutigen modernen und anerkannten Wissenschaftsstandort.
„Preußische Messblätter“ und Heinrich Berghaus
Unter der Leitung von Heinrich Berghaus (1797-1884), Geodät, Kartograph und Kupferstecher, entstand zwischen 1840 und 1850 nach intensiver Neuvermessung ein detaillierter Plan der Stadt Potsdam. Kunst und Wissenschaft bildeten in dieser Zeit noch eine Einheit, wie es sich auch im Namen seiner „Geographischen Kunstschule“ Potsdam deutlich wird. Die Beherrschung der Geometrie/Trigonometrie bildete traditionell eine Basis im gestalterischen Handwerk. Die 1837 entstandenen sog. „Preußischen Messblätter“ waren die ersten relativ genauen Vermessungen in Preußen. Sie bilden im Kartendruck die allgemeine Grundlage der modernen Kartographie. Heute helfen GPS-Daten dabei, historisches Kartenmaterial zuverlässig auf Differenzen und Ungenauigkeiten hin zu überprüfen. In der Praxis der damaligen Architekten und Planer wurde für eine Baumaßnahme im Stadtraum die direkte Peilung auf real sichtbare Fixierpunkte bevorzugt. Thiede meint, dass die relative Genauigkeit vieler historischer Turmbeziehung zueinander und zu Fernzielen ohne GPS, im Wesentlichen nur mit dem Handwerkszeug der Geometrie ist daher schon erstaunlich.“ Schon die Lage der Geographischen Kunstschule – etwas erhöht am Brauhausberg – bot die Möglichkeit, von hier aus grundlegende Peilungen und Achsbeziehungen vornehmen zu können.
Schlösser und Türme als Ankerpunkte
Thiede stellt fest, „das sich die gutbürgerlichen Bauten mit ihren Türmen und betonten Giebeln in Form und Ausrichtung meiste auf die Potsdamer Schlösser und andere betonte Hochpunkte beziehen. Die Kirchen bziehen sich oft auf andere religiöse Gebäude und formen ebenso ein eigenes Netzwerk.
Dagegen bilden auch die Kasernen spezielle Achsbeziehung mit „Ihresgleichen“. Für die Kundigen wird damit ein realiv praktisches und entwicklungsfähiges Orientierungssystem in mehreren hierarchischen Ebenen sichtbar.“
Im Laufe der Jahrzehnte verdichtete sich das Netz an Türmen in der Stadt, so dass nun durch die Überschneidungen der verschiedenen Sichtachsen viele „Zufälle“ an architektonischen Arrangements entstanden. Das sei ein „durchaus beabsichtigter Nebeneffekt in der Eigensynamik der Vernetzung und bestätigt nur das ästetische Konzept sowie das sichere gestalterische Empfinden der Planer. Jeder Ton ist wichtig in der Melodie – „Architektur wie Musik“.
Liebhaber Potsdams sollten es lesen
Als professioneller Maler und Grafiker und aufmerksamer Beobachter bringt der Autor dem Leser seine vielfach überraschenden Perspektiven zur Betrachtung der Stadtkomposition und im Detail deren kunst- und geistesgeschichtlichen Einordnung nahe. Nicht nur Architekturstundenten sei dieses wichtige Buch, auch für an der Bau- und Kulturgeschichte der Stadt Interessierte, sei es empfohlen.
Olaf Thiede, Potsdam im Blick. Innenstadt und Vorstädte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Potsdam 2024. 66 Euro. Die Traditionsdruckerei Rüss in Potsdam sorgte für den Druck.
Das Buch gibt es u.a. im Internationalen Buch Potsdam Brandenburger/ Ecke Friedrich-Ebert-Straße. Auch das zusammen mit Andreas Patzak herausgebrachte Fotobuch „Die Farben der Zeit“ zur Geschichte der Potsdamer Fassadenschriften ist empfehlenswert.
Olaf Thiede, Jahrgang 1957, absolvierte eine Lehre als Handschriftsetzer im Druckkombinat Berlin. Er studierte von 1975 bis 1982 Grafik an der Fachschule für Werbung und Gestaltung in Berlin-Schöneweide. Berufserfahrungen sammelte er als angestellter Grafiker. Seit 1989 arbeitet er als freischaffender Maler, Grafiker und Autor mit eigenem Atelier.
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