Ferienzeit. Auf der Suche nach einer kurzweiligen amüsanten Urlaubslektüre fiel mir Jurek Beckers Postkartenausgabe „am Strand von Bochum ist allerhand los“ im Buchladen auf. Zugegeben, ich hatte mich zunächst verlesen, auf die Schnelle hatte ich statt Bochum Borkum gelesen. Die schöne und größte Ostfriesische Insel weckte sofort Urlaubsgefühle. Magisch angezogen, nahm ich das Buch in die Hand und beim ersten Durchblättern schmunzelte ich über die Anreden, die Becker für seine Frau Christine fand: „Du alte Rundumleuchte; Du alte Schmuckschatulle; Du altes Jägerschnitzel; Du alte Laugenbrezel; Du alte Wärmflasche; Du alte Bratwurst; Du altes Bügelbrett; Du dickes Ende; Du unermeßliche Weite …“ – nur einige der reizvollen Liebkosungen. Für jede an sie gerichtete Postkarte gibt es eine neue Liebeserklärung. „Du alte Laugenbrezel“ nutzt er zweimal. Warum wohl ausgerechnet diese Liebkosung es zweimal in die Anredezeile schaffte? Auch die humorvollen Liebeserklärungen an den Sohn: „Du alte Ananasbirne; Du alte Bratkartoffel; Du liebe Fahrradeisenbahn; Du alter Mäuseklops; Mein lieber Kullerpfirsich …“ sprechen von der innigen Liebe zwischen Vater und Sohn. 

Cover Suhrkamp Verlag

Cover Suhrkamp Verlag

 

 

Spiegel Online schrieb, dass „Becker das Schreiben dieser lyrischen Lebenszeichen regelrecht zur Kunstform erhoben und damit wahrscheinlich gar ein eigenes literarisches Genre erfunden (hat)“. Dem kann ich nur zustimmen. Es ist schon eine Kunst, auf knappstem Platz wertvolle Gedanken an Freunde und Familie festzuhalten. Eine wundervolle und kurzweilige Reisebeschreibung sowie humorvolle Familien- und Freundesgeschichte in Schlaglichtern macht die Postkartenschau nicht nur zur Urlaubszeit zu einem besonderen Leseerlebnis. 

Christine Becker, seit 1986 mit Jurek Becker verheiratet, hat diese Postkartensammlung zusammengestellt. Sie stellt uns den ab 1977 in West-Berlin lebenden Schriftsteller und Filmbuchregisseur als humorvollen, den Alltag zwischen den Welten sehr intensiv beobachtenden und in ironischen Sentenzen festhaltenden liebenswerten Menschen vor. Als Kind überlebte der 1937 im polnischen Łódź geborene Jurek Becker Ghetto und Konzentrationslager. 

Die neunhundertfünzig erhaltenen Postkarten waren zu einem Großteil adressiert an die Freunde Ottilie und Manfred Krug (über zweihundert), an den Sohn Jonathan (etwa einhundertzwanzig) und etwa vierhundert an die Herausgeberin Christine Becker. Rund zweihundert Postkarten hat Christine Becker für diesen Band ausgewählt. 

 

Hier einige Beispiele der amüsant zu lesenden Postkartentexte:

An Ottilie Krug, Berlin
17.7.1996 (Sieseby)

Liebe Ti,

sicher sieht es in Kalifornien anders
aus, aber auch unsere kleine nord-
deutsche Welt hat ihre Vorzüge. Wir
liegen nicht unter Palmen, sondern
unter umweltfreundlichen Wind-
rädern; unser Bier heißt nicht Michelob
oder Schlitz, sondern Hanse Pils und Flensburger, und wenn morgens ein
Auto vor der Tür hupt, dann ist es der Bäcker mit frischen Brötchen und
nicht das Mordkommando. Ja, wir
erleben unsere Abenteuer mehr im
Inneren.

Es grüßt und küßt Dich
Jurek

An: Christine Becker, Berlin
22.1.1997 (Berlin)

Du offene Rechnung,

ich arbeite gerade an einem neuen Romankonzept,
angeregt durch den Kosmos meiner neuen Erfahrung-
en: Türkische Putzfrau verliebt sich in deutschen
Chefarzt. Der wiederum ist hinter einem russland-
deutschen Krankenpfleger her. Doch der arbeitet daran,
seine geliebte urkainische Verlobte von der Krim herzu-
holen. Schließlich läßt er sich mit dem Chefarzt ein,
weil er sich von dessen Beziehungen Hilfe ver-
spricht. Es gelingt ihm auch, das Mädchen her-
zuholen (Katjuscha); doch als sie von seiner
homoerotischen Beziehung erfährt (von der tür-
kischen Putzfrau), beendet sie das Verlöbnis und
geht mit ‚Ärzte für den Frieden‘ nach Ruanda (sie
ist Baggerführerin). Dort lernt sie den Sohn
des Chefarztes kennen, und so schließt sich der
Kreis des Lebens. Die Geschichte ist wohl noch nicht
ganz fertig, aber ich glaube, ich bin auf dem
richtigen Weg.

DDv   J                    

Mit der Postkarte an Christine Becker (Becker) vom 31.1.1997 (Berlin)
endet die Edition:

Du klarer Fall,

wenn man mich fragen würde, ob der
Tag, an dem wir uns zum erstenmal
begegnet sind, ein besonderer Tag in
meinem Leben war, würde jede Faser
meines Körpers rufen: Ja, ja, ja! Und
zu gern würde ich erläutern, worin das
Schicksalhafte dieses Tages lag.
Doch woran immer es liegt – es stellt
mir niemand so grundlegende Fragen.
Der eine will wissen, warum ich mich so
lange nicht melde, der nächste, ob ich
Lust auf Nudelsuppe habe, der dritte, wie
es mir denn so geht. Oh, sancta simpli-
citas! (Oh, heilige Einfalt)!

Dein J.

Worin das Schicksalhafte dieses Tages lag, werde ich nicht mehr erfahren. Aber eine gute Erzählung lässt Fragen offen und gibt Raum für eigene Gedanken …

Was am Strand von Bochum los ist, muss ich überlesen haben. Aber noch ist Ferienzeit, ich fange einfach noch mal mit der Lektüre an. Und dann wartet schon ein guter Freund auf die Ausgabe. Josef Grütter kommt aus Nordrhein-Westfalen und wird sicherlich einiges zu erzählen haben. Wie immer wird er seine Eindrücke auf der Rückseite eines beschriebenen Blattes vermerken. – Auch das erinnert mich ein bisschen an Postkarten-Mitteilungen. Brennend interessiert mich seine Antwort auf die Frage, was es mit dem Stand von Bochum auf sich hat.

Am 14. März 1997 stirbt Jurek Becker in Sieseby (Schleswig-Holstein). Seine Frau Christine, die seit 1986 mit ihm verheiratet ist, betreut seit 22 Jahren seinen Nachlass.

Der wohl beste Freund von Jurek Becker war der Schauspieler und Sänger Manfred Krug. Ihm und seiner Frau Ottilie widmete er eine Vielzahl von Postkarten, veröffentlicht in „Jurek Beckers Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti. Econ & List Taschenbuch Verlag. Düsseldorf und München 1997. ISBN 3-612-26646-2

Manfred und Ottilie Krug fanden auf dem Stahnsdorfer Südwestkirchhof bei Berlin ihre letzte Ruhestätte.

Manfred Krug Stahnsdorfer Südwestkirchhof Friedhof

Ottilie und Manfred Krug

Jurek Becker, am Strand von Bochum ist allerhand los. Postkarten. Suhrkamp Taschenbuchverlag. 1. Auflage, Berlin 2019. ISBN 978-3-518-47037-4. www.suhrkamp.de